Interview mit dem Alumnus Tobias Lütticke

Tobias Lütticke

Alumnus im Land der großen weißen Wolke
Tobias Lütticke sucht Herausforderungen am anderen Ende der Welt

Tobias Lütticke, Diplom-Informatiker und Alumnus der Universität Karlsruhe, suchte nach neuen Herausforderungen. Mit seiner Familie und seinem gesamten Hab und Gut nach Neuseeland auszureisen und dort am Justizministerium eine neue Aufgabe zu finden, schien ihm genau die richtige Lösung zu sein. Heute lebt er seit fast einem Jahr nahe der Hauptstadt Wellington mit seiner Frau und bald zwei Kindern. Im Interview mit AlumniKaTH berichtet er von den aufreibenden Vorbereitungen und warum es sich trotz allem lohnte, die Mühen auf sich zu nehmen.

Herr Lütticke, Sie studierten an der Uni Karlsruhe Informatik. Wie kommt ein deutscher Dipl.-Informatiker zu einer Stelle im neuseeländischen Justizministerium?
Der schwierige Teil war, eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis für Neuseeland zu bekommen. Generell gelten für eine Stelle im Staatsdienst keine besonderen Voraussetzungen und insbesondere muss man nicht Neuseeländer sein. Ach ja, Vorstrafen sind eher hinderlich... Insgesamt ist das Ministry of Justice ein ganz normaler Arbeitgeber. Nachdem ich mein gesamtes Berufsleben bei einem Dienstleister verbracht habe, fand ich es spannend, einmal die andere Seite kennen zu lernen. Außerdem hält das MOJ jede Menge interessante Aufgaben bereit. Aktuell trage ich die technische Verantwortung für ein Projekt, an dem gleich mehrere Regierungsorganisationen beteiligt sind. Das ist schon eine neue Größenordnung. Und das alles mit kurz bevorstehenden Parlamentswahlen: Da sind die Ansprüche besonders hoch, weil keiner gerne auf der Titelseite der Tageszeitungen landen möchte.

Wie haben Sie Ihr Studium in Erinnerung?
Insgesamt war mein Studium gar nicht so außergewöhnlich. Lustig war, dass ich als einziger Informatiker mit dem Nebenfach BWL und dem Schwerpunkt Organisation und Unternehmensführung in diesen Vorlesungen immer ein deutliches Fremdkörpergefühl hatte. Die Informatiker dachten damals, sie hätten das logische Denken gepachtet und die BWLer natürlich alles wirtschaftliche. Die Klausuren waren dann die Stunde der Wahrheit und haben gezeigt, dass individuelle Fähigkeiten den Erfolg bestimmen und nicht die Zugehörigkeit zu einem Studiengang. Insgesamt habe ich mein Studium in positiver Erinnerung und denke auch gerne an die Zeit zurück.

Sie sind mit ihrer Familie und ihrer gesamten Habe ans andere Ende der Welt gezogen. Wie aufwendig waren die Vorbereitungen?
Der Aufwand war gigantisch und die Vorbereitung hat sich über fast zwei Jahre hingezogen, mit wechselnder Intensität. Wir waren beide berufstätig, dann kam unser Sohn zur Welt, was uns auch nicht gerade zusätzliche Freizeit beschert hat. Es ist jede Menge Rennerei erforderlich, die notwendigen Dokumente zu besorgen, sie übersetzen und beglaubigen zu lassen und zur Anerkennung nach Neuseeland zu senden. Die Originale, wohlgemerkt! Dazu kamen dann Sprachtest (in Köln), Untersuchung der ganzen Familie bei einem akkreditierten Arzt (in Frankfurt) und einiges mehr. Problematisch war auch, die nötigen Details für die Einschätzung der Qualifikation zusammen zu stellen. Gefordert ist etwa ein detaillierter Stundenplan aller Vorlesungen. So etwas liefert die Uni erstens gar nicht und zweitens ist es schier unmöglich, das rückwirkend für eine Vorlesung von vor 7 Jahren zusammen zu stellen. Das hat dann auch dazu geführt, dass mein Diplom nur als Bachelor und nicht als Master anerkannt wurde. Die Ansprechpartner an der Uni waren aber fast ausnahmslos sehr hilfsbereit und haben uns sehr geholfen. Der wirklich nervenaufreibende Teil beginnt eigentlich erst dann, wenn man merkt, dass es kein Zurück mehr gibt. Als dann die Möbel im Container unterwegs waren und wir die letzte Zeit in einer quasi leeren Wohnung verbracht haben, das war schon ein mulmiges Gefühl von Endgültigkeit.

Eines der gängigsten „Vorurteile“ über Neuseeland ist, dass es dort mehr Schafe als Menschen gibt. Mit welchen Vorstellungen sind Sie dort hin gereist, welche wurden bestätigt und welche widerlegt?
Was mich überrascht hat, war, dass Deutschland in punkto Naturschutz in einigen Bereichen deutlich weiter ist. Man verbindet mit Neuseeland und der großartigen Natur automatisch auch, dass hier ein entsprechendes Bewusstsein vorherrscht. Das ist aber ganz und gar nicht der Fall. Als ich unsere Mülltonne bestellt habe und es um die Größe ging, wurde ich gefragt, ob wir denn recyclen. Da habe ich tatsächlich einen Moment nachdenken müssen, ob die Frage ernst gemeint ist. Zentralheizung und Doppelverglasung sind hier übrigens faktisch Fremdwörter, viele Haushalte heizen auch noch ausschließlich elektrisch, was unglaublich ineffizient ist. Besonders auf der Südinsel muss auch im Winter immer mal wieder der Strom rationiert oder ganz abgestellt werden. Unglaublich, aber wahr. Erst langsam setzt in den Bereichen Energieeffizienz und Recycling ein Umdenken ein. Ein Klischee, das sich tatsächlich bewahrheitet hat, ist das von Offenheit und Gastfreundschaft. Das gilt nicht nur Touristen gegenüber, sondern die Erfahrung machen wir im Alltag immer wieder. Und die Natur ist natürlich wirklich beeindruckend. Am Meer zu wohnen, am Horizont schneebedeckte Gipfel und dazwischen Wälder, die fast subtropisch anmuten, das hat schon was. Übrigens: Das Verhältnis von Schafen zu Menschen liegt tatsächlich bei etwa 10:1...

Wie wurden Sie von Ihren neuen Kollegen aufgenommen? Wie unterscheidet sich ihr jetziger Berufsalltag von dem in Deutschland?
Die Aufnahme war herzlich, aber nicht außergewöhnlich. Insgesamt ist der Alltag gar nicht so anders. Es sind dann eher die Kleinigkeiten, die in der Summe den Unterschied ausmachen. Einen deutlichen Einfluss hat Wellingtons berühmte Coffee Culture: Meetings werden gerne und oft mal in einem der zahlreichen kleinen Cafes um die Ecke abgehalten. Überhaupt spielt sich erstaunlich viel in Cafés ab. Wir tauschen zum Beispiel oft Erfahrungen mit anderen Ministerien oder Regierungsorganisationen auf dem kleinen Dienstweg aus. Das geschieht dann in der beschriebenen lockeren Atmosphäre. Außerdem ist es hier durchaus üblich, nicht mehr als drei Jahre bei einem Arbeitgeber zu bleiben. Das führt dann dazu, dass sich recht schnell ein Kontaktnetzwerk aufbaut und man Bekannte in vielen verschiedenen Firmen hat. Nette Gepflogenheiten sind etwa Friday Drinks, wenn man zum Ende Woche noch einmal gesellig zusammenkommt, oder die zahlreichen „morning teas“ oder „afternoon teas“. Das ist nichts anderes als Schnittchen und Kaffee/Tee, die etwa bei Workshops serviert werden. Bei so einer Gelegenheit hatte ich dann auch meine erste Begegnung mit den kiwitypischen und unvermeidlichen „Sausage Rolls“ und „Scones“. (Würstchen in Blätterteig und Gebäck, Anm. d. Red.)

Was vermissen Sie in Neuseeland am meisten und was bestätigt Sie dort in Ihrer Entscheidung für die Auswanderung?
Schmerzlich vermissen wir eigentlich nur Verwandte und Freunde. Das ist auf Dauer sicher der schwerste Teil. Was Produkte angeht, ist Alles im Wesentlichen hier auch erhältlich. Ach ja, um ein Klischee zu bedienen: Wir vermissen natürlich das gute deutsche Brot. Für echtes Mehrkornbrot gibt es dann aber den Bioladen und natürlich die deutsche Bäckerei. Sehr surreal war unser erstes Weihnachten. Am 25. Dezember bei strahlendem Sonnenschein und in kurzer Hose Burger wenden - das ist schon etwas bizarr. Auch daran, den Geburtstag der Queen zu feiern, muss man sich erst gewöhnen. Ein arbeitsfreier Tag hilft da enorm... Insgesamt entdecken wir ständig Neues und lernen dazu. Am Anfang war das natürlich eine enorme Herausforderung, aber jetzt ist es einfach nur spannend und bereichernd. Wir sind nicht hergekommen, weil wir glauben, dass hier alles besser ist. Das ist definitiv nicht der Fall und solche Erwartungen würden auch zwangsläufig enttäuscht. Unser Ziel ist es, den eigenen Horizont zu erweitern und eine andere Kultur gründlich kennen zu lernen. Dazu haben wir viele schöne Gelegenheiten.

Fast 70% der Einwohner Neuseelands sind europäischer Abstammung, die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe bilden die Maori, danach folgen Einwohner aus Asien. Wie ist die kulturelle Vielfalt im Alltag spürbar?
Das beste Beispiel ist wohl meine eigene Abteilung. Echte Kiwis muss man schon mit der Lupe suchen. Wir sind eine bunt gemischte Truppe aus England, Deutschland, den Phillipinen, Kanada, Südafrika etc. Das macht den Alltag sehr interessant, weil man sich oft über kulturelle Eigenheiten austauscht. Auf der anderen Seite kann es sicherlich auch hinderlich sein. Unterschiedliche Verständnisse von Qualität oder Gründlichkeit sind ein gutes Beispiel. Der Neuseeländer ist sowieso nicht besonders formal, aber zusätzlich schlägt sich die kulturelle Vielfalt auch in Gelassenheit nieder. Das beinhaltet etwa die Kleidung, aber auch Toleranz oder Offenheit und Neugier im positiven Sinne. Natürlich erzeugt die Vielfalt auch Reibung, das ist klar. Da bis auf die Maori aber alle Einwanderer sind oder von solchen abstammen, sitzen alle im gleichen Boot. Jeder hat so ein bisschen das Gefühl, Gast zu sein oder versteht zumindest aus eigener Erfahrung, wie es den anderen geht.

Neuseeland ist das einzige Land der Welt, in dem neben Englisch und Maori auch die Neuseeländische Gebärdensprache als offizielle Amtssprache gilt. Was sagt das über die in Neuseeland vorherrschende Mentalität aus?
Vor kurzem hatten wir ein Telefoninterview mit einem tauben Bewerber, der aus Auckland kam und von dort aus mit Übersetzer operiert hat. Das war schon eine spannende Situation. Insgesamt denke ich, dass dies ein Beleg für die Akzeptanz der Heterogenität der Bevölkerung ist, nicht nur was unterschiedliche Volksgruppen angeht. Historisch hat zwar auch Neuseeland eine unrühmliche Vergangenheit im Umgang mit den maorischen Ureinwohnern. Die Mentalität hat sich aber gewandelt und es herrscht eine große Offenheit gegenüber der Vielfalt der Einwohner.

Welchen Rat würden Sie anderen Auswanderungswilligen geben, die in Neuseeland leben möchten?
Das kommt ganz auf die individuelle Lage an. Sicher ist aber, dass man so ein Projekt nicht aus einer Laune heraus angehen sollte, denn es ist einiges an Durchhaltewillen erforderlich. Voraussetzung für ein Heimischwerden hier ist aber auch, dass man mit realistischen Vorstellungen kommt. Die schöne Natur verliert schnell an Bedeutung, wenn man tagtäglich mit den Problemen des Alltags kämpfen muss. Manchmal sind es Kleinigkeiten, die man vermisst - wie etwa Bionade. Anderes ist wichtiger, wie zum Beispiel Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, die nicht nennenswert existiert. Auch vier Wochen Urlaub können wenig sein, wenn man Jahre lang an sechs gewöhnt war. Dass die Masse aller Waren und Güter aus Übersee kommt, hat natürlich auch Auswirkungen auf deren Preis. Qualifizierte Auswanderer nimmt Neuseeland gerne auf und bereitet Ihnen auch einen warmen Empfang. Selber muss man aber einiges an Flexibilität mitbringen, damit das Ganze ein Erfolg wird. Es ist sicher nicht das Land, das sich an den Einwanderer anpasst, sondern umgekehrt wird ein Schuh draus.

 

September 2008